2016 waren die Nachrichten geprägt von Wahlprognosen und deren Versagen. Dass heute Donald Trump US-Präsident ist und die EU Austrittsverhandlungen mit Großbritannien führt, hat niemand geglaubt – geschweige denn prognostiziert. Gerade in der Meinungsforschung gilt: Knapp daneben ist auch vorbei. Wie valide sind Meinungsumfragen heutzutage überhaupt noch?
Stephen Shakespeare vom Meinungsforschungsinstitut YouGov gibt in einem Interview mit der Zeit zu bedenken, dass bei Umfragen immer mit gewissen Abweichungen von der Realität zu rechnen ist, welche bei extrem knappen Abstimmungen zu fehlerhaften Vorhersagen führen können. Bereits geringe Verzerrungseffekte können zu fehlerhaften Ergebnissen führen.

Verzerrung, Taktik, mangelnde Reliabilität

Verzerrungseffekte können verschiedene Ursachen haben. Grundsätzlich entscheidet die Repräsentativität einer genommenen Stichprobe über die Reliabilität (= Verlässlichkeit) dieser. Repräsentativität lässt sich aber nicht nur an Fakten festmachen, sondern ist vielmehr das Zusammenspiel unzähliger soziodemografischer Variablen und dem zu erwartenden Verhalten einzelner Gruppen. Es reicht beispielsweise nicht, dass die Stichprobe die Altersstruktur der deutschen Gesellschaft widerspiegelt, wenn gleichzeitig außer Acht gelassen wird, dass unter Alten und Jungen eine unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung herrscht, welche zudem noch je nach Wahl und Wahlthemen Schwankungen unterliegt.

Im Vorfeld des Brexit-Referendums haben Umfrageinstitute beispielsweise den Fehler gemacht, von traditionell niedrigen Wahlbeteiligungswerten in den ländlichen Labour-Hochburgen auszugehen, welche durch stabil hohe Wahlergebnisse für die Labour-Partei zustande kommen. Während bei normalen Wahlen nichts auf dem Spiel zu stehen scheint, mobilisierte das Brexit-Referendum – teils mit fragwürdigen bis illegalen Methoden (Stichwort: Fake News) – auch Nicht-Wähler, die bis dato keine statistische Beachtung gefunden hatten. Wahlforschung ist demnach auch ein Stück weit Verhaltensforschung.

Auch das taktische Wählen erschwert eine treffende Vorhersage. Es kann davon ausgegangen werden, dass Wähler sich durch bereits veröffentlichte Meinungsumfragen beeinflussen lassen und taktisch wählen, um Regierungen und Koalitionen zu verhindern oder zu unterstützen.

Vor der Präsidentschaftswahl 2016 in den USA ließen sich linksliberale Medien vermehrt dazu hinreißen, Wahrscheinlichkeiten mit Gegebenheiten zu verwechseln und Hillary Clinton zur Siegerin zu küren, noch bevor die Wahllokale geöffnet hatten. Mögliche Überlegungen, die daraus folgen, wären z.B. gar nicht abzustimmen und sich auf den Vorhersagen auszuruhen oder gerade zur Wahl zu gehen, um einen solchen Sieg doch noch zu verhindern. Beide Verhalten rufen unvorhersehbare Verzerrungseffekte hervor. Wie verlässlich Meinungsumfragen sind, liegt demnach vor allem an der reflektierten Rezeption der Ergebnisse und deren richtiger Einordnung in den Kontext.

Auch das noch: Leaks, Social Bots und „alternative Fakten“

Verzerrungseffekte, taktisches Wählen und Prognosen-Effekte – all das galt schon immer. Was aber hat sich in den letzten Jahren verschoben, das die Zuverlässigkeit bewährter Instrumente der Meinungsforschung plötzlich an ihre Grenzen stoßen lässt?

Erschwerend für Analysten kommt heute hinzu, dass die Digitalisierung unserer Kommunikation und Informationsbeschaffung Meinungsschwankungen durch ein extrem vielfältiges Medienangebot begünstigt. Zunehmende gezielte Provokationen durch Parteien und Wahlkämpfe hinterlassen messbare Ausschläge in den Erhebungen der Meinungsforschungsinstitute. Ganze Kampagnen werden auf der Strategie stetiger Provokation aufgebaut, Datenleaks vor Wahlen werden immer häufiger. Zuletzt traf es den französischen Präsidenten Emmanuel Macron kurz vor der entscheidenden Stichwahl. Während das Leak in Frankreich kaum weitreichende Folgen gehabt zu haben scheint, fiel es Hillary Clinton schwer, sich von der Veröffentlichung ihrer E-Mails im Vorfeld der Wahlen 2016 zu erholen. Mit Provokationen im öffentlichen Raum verhält es sich folglich wie in der face-to-face-Kommunikation: Je nachdem, wie gefestigt die eigene Position und wie groß die gebotene Angriffsfläche ist, kann man Provokationen ins Leere laufen lassen und ihnen ihre Durchschlagskraft und Reichweite nehmen.

Die im Kontext der anstehenden Bundestagswahl 2017 auch in Deutschland viel diskutierten Social Bots bringen noch weitere Aspekte der kommunikationswissenschaftlichen Medienwirkungsforschung mit ins Spiel. Social Bots sind Programme, welche den politischen Diskurs durch gezielt abgesetzte Posts in sozialen Netzwerken beeinflussen sollen. Es handelt sich um automatisch generierte Beiträge, welche häufig im Zusammenhang mit polarisierenden Diskussionen stehen. Diese werden durch z.T. faktisch falsche Kommentare und Informationen angeheizt. Da die Posts meist nicht zurückverfolgt werden können, ergibt sich daraus eine strafrechtliche Grauzone. Besonders perfide: Manche Social Bots nutzen Facebook-Likes von Nutzern und weitere verfügbare Daten, um ein individuelles Psycho-Profil zu erstellen und den Nutzer dann automatisch mit passgenauen Botschaften (häufig „alternative Fakten“) zu konfrontieren.

Zersplitterte Öffentlichkeit: Filter Bubbles und Schweigespiralen

Ob „alternative facts“ einen ausschlaggebenden Einfluss auf die öffentliche Meinung haben, ist umstritten und hat viel mit der Medienkompetenz der Rezipienten zu tun – vor allem aber mit deren sogenannter Filter Bubble. Mit diesem mittlerweile inflationär benutzen Begriff beschreibt sein Urheber Eli Pariser ein Phänomen aus der digitalen Kommunikation, welches die Einflüsse auf eine Person als geschlossenen Kreislauf begreift. Demnach würden von Social Bots verbreitete alternative Fakten auch nur bei solchen Rezipienten Anklang finden, welche sich ohnehin mit diesem Gedankengut befassen. Die individuellen Prädispositionen prägen die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen am stärksten. Und diese werden wiederum durch das soziale und mediale Umfeld geformt.

Anzumerken bleibt hierbei, dass erst durch die Verlagerung unserer alltäglichen Kommunikation hin zu digitalen Medien eine völlig neue Angriffsfläche für Bots, Hacks und Leaks entstanden ist. Die klassischen Medien befinden sich seit einigen Jahren in der Krise und verlieren ihre Leser stetig an digitale Artgenossen. Durch die Verfügbarkeit einer Vielzahl von Meinungsmedien im Netz verlieren Mainstreammedien ihr Alleinstellungsmerkmal der reichweitenstarken Informationsverbreitung. Dies ist wiederum Ursache und Folge einer zersplitterten Gesellschaft zugleich – ein sich selbst speisender und aufrechterhaltender Kreislauf.

Widmet man sich dem Einfluss des sozialen Umfeldes auf das Wahlverhalten, kommt man nicht an Elisabeth Noelle-Neumann vorbei. Seit sie ihre Theorie der Schweigespirale in den 1970er Jahren aufstellte, ist dies ein viel beschriebenes und untersuchtes Phänomen, welches zuletzt vom US-amerikanischen Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center umfassend auf eine digitalisierte Medienlandschaft angewandt wurde.

Kurz gefasst liegt laut Noelle-Neumann dem menschlichen Verhalten eine Furcht vor Isolation zu Grunde, welche dazu drängt, sich sozialem Druck zu beugen und sich vermeintlichen Mehrheiten anzuschließen. Vermeintlich deshalb, weil das soziale Umfeld oft zur Rezeption nur einseitiger Überzeugungen führt. Wähnt man sich nun in der Minderheit und wird von einer fremden Person zu seiner Meinung befragt, neigt im Zweifel jeder dazu, sich als Teil der Mehrheit auszugeben, sprich: eine Falschaussage bezüglich des Wahlverhaltens zu machen.

Die Kommunikationswissenschaft teilt soziale Gruppen noch einmal auf in Meinungsführende und Meinungsfolgende, was ein Ansatz zur Erklärung von fake news und entwerteten Fakten ist. Die Verknüpfung von Informationen mit der Glaubwürdigkeit eines Meinungsführers und zwischenmenschliche Beziehungen führen unweigerlich zur Emotionalisierung von Nachrichten. Da soziale Medien auf der Grundlage zwischenmenschlicher Interaktion aufgebaut sind, spitzen sich hier mehrere der oben genannten Effekte zu und machen Meinungsforschern das Leben schwer.

Nicht verzagen: Im Wandel liegt die Chance

Die Zuverlässigkeit einer Meinungsumfrage ist daher niemals statisch, sondern muss im Kontext der steigenden Komplexität individueller Meinungsbildung gesehen werden. Wahrscheinlichkeiten sind aber niemals Realität, sondern lediglich eine von Verzerrungseffekten geprägte Annäherung an diese. Meinungen werden dynamischer, wenngleich sie selten einen ideologischen Rahmen verlassen. Der Mainstream in den Medien zerfällt zunehmend – die Öffentlichkeit wird komplexer und vielgesichtiger.

Nun könnte man beweinen, dass die „gute alte Zeit“ der überschaubaren, relativ homogenen Öffentlichkeit vorbei ist und die Flinte ins Korn werfen.

Oder man kann die neue Situation als Herausforderung und Chance begreifen: indem man bis zum letztmöglichen Tag alles gibt, zugespitzte und gut durchdachte Zielgruppenkommunikation betreibt und die Möglichkeiten der digitalen Öffentlichkeit selbstbewusst nutzt. Als politischer Akteur kann und sollte man die Chance nutzen, Teile der Öffentlichkeit bis zur letzten Sekunde auf seine Seite bringen zu können, solange man sich innerhalb der ideologischen „Bubble“ einer Person befindet. Frei nach dem Motto: It ain‘t over till it‘s over.